6 Schritte in der Naturbeobachtung

heute weiß ich es anders

Die Auseinandersetzung mit der Natur funktioniert bei vielen, die das öfter machen, automatisch. Es läuft nach einem Muster ab, das unserer natürlichen Neugier geschuldet ist. Erkennst du dich in Elenas Selbstbeobachtungen wieder?

Vorm Fenster springt ein Vogel unter einen Busch. Seine Bewegungen erinnern mich an einen Vogel, den ich vor einigen Jahren mal beobachtet habe. Ihn habe ich damals „Spatz“ genannt – heute weiß ich es anders. Aber vor ein paar Jahren waren alle kleinen Singvögel Spatzen für mich und somit auch der Zaunkönig, den ich gesehen habe.

  1. Wahrnehmen
  2. Beobachten
  3. Notieren
  4. Auseinandersetzen
  5. Wahrnehmen
  6. Ergänzen

1. Wahrnehmen

Du kannst nicht über etwas schreiben, an das du gar nicht denkst, das unsichtbar ist für dich, unfühlbar, unhörbar, unriechbar. Am Anfang der Naturbetrachtung steht also die Wahrnehmung. Wichtig ist nicht, wer deinen Weg kreuzt, viel mehr steht im Vordergrund, zu bemerken, dass da überhaupt noch jemand anderes ist als du. Wenn du ganz naiv und mit viel mehr Fragen als Antworten auf etwas Unbekanntes zugehst, wird sich dir eine unendliche Welt an Erkenntnissen aufmachen. Lösungen sind oft Endstationen.

Gesteigerte Wahrnehmung führt uns näher an das Unerwartbare.

huch, was machst du denn hier?

2. Beobachten

Irgendetwas hat also deine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ist es wichtig, welche Art Eidechse da vor dir im Laub liegt? Oder ist es nicht viel interessanter, Fragen zuzulassen, die sich durch Beobachtung, dem Lesen der Situation und dem Rückgriff auf deinen Erfahrungsschatz lösen lassen? Es kann auch sein, dass die aufmerksame Beobachtung Fragen aufwirft, die nicht gelöst werden.

3. Notieren

Es soll sie ja geben, diejenigen, die sich Dinge merken können, ohne sie festzuhalten. Ich jedenfalls gehöre nicht dazu. Was nicht notiert, abgekritzelt, weitererzählt oder fotografiert wird, landet oft im Bermuda-Dreieck meiner Erinnerung. Mithilfe von Tagebüchern, Nature Journaling, kurzen Notizen, Nature Writing oder dem Fotografieren der Dinge, die ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken, steuern viele Menschen diesem Vergessen entgegen

Wer bist du denn, du Oarschwurzn?

4. Auseinandersetzen

Vielleicht kommst du über die Beschäftigung mit dem Mysterium vor dir auf Verwandtschaftsverhältnisse oder hast eine Idee für einen passenden Namen. Mir geht es zumindest so: Je mehr ich mich mit Tieren und Pflanzen beschäftige, umso mehr Verbindungen zwischen ihnen sehe ich, und das ist ein tolles Gefühl! Manchmal hast du vielleicht ein Bestimmungsbuch dabei und kannst noch an Ort und Stelle durch seine Seiten streifen. Oder jemand aus der Nachbarschaft wird gefragt, was das hier im Vorgarten für ein seltsamer Baum ist. Zuhause ziehe ich dann gern das Wörterbuch zurate, um über den Namen des Krauts seine alte Bedeutung für die Menschen herauszufinden. Eventuell wird es auch exzessiv und Dokus werden geschaut, Romane zu dem Thema gelesen.

5. Wahrnehmen

Wenn du die Chance hast, gehst du mit dem neuen Wissen noch einmal zum Subjekt deiner Beschäftigung. Erkennst die abgestorbenen Pflanzenteile so auch im Winter oder entdeckst die Details der schuppigen Haut an der Eidechse, von der du in der Doku eine Nahaufnahme gesehen hast. Mir ging es ganz besonders so, als ich mich näher mit dem Dachs in meiner Umgebung beschäftigt habe: Plötzlich waren da überall Spuren! Deine Wahrnehmung erweitert sich.

6. Ergänzen

Die erneute Wahrnehmung führt dazu, dass du dein Wissen, deine Notizen ständig ergänzt. Am schönsten finde ich persönlich, wenn ich erkennen kann, welche Informationen für mich beim ersten Beobachten noch völlig neu oder sogar unsichtbar waren, beim zweiten, dritten, vierten Zusammentreffen aber selbstverständlich geworden sind. Wenn die Schlüsse aus den alten Beobachtungen durch neue Erkenntnisse überschrieben werden, wird der eigene Lernprozess besonders deutlich. Das Lernen hört also nie auf, die Schritte wiederholen und wiederholen sich. Der Prozess grenzt an die in der Geisteswissenschaft bekannten Methode der Hermeneutik.

Ich möchte eine Geschichte mit dir teilen, die mich zu diesem Beitrag inspiriert hat:

Daumenkino eines Spatzen

Vor fast vier Jahren schrieb ich diese Beobachtungen auf. Es könnte mir sehr peinlich sein, weil hier gar kein Sperling, also ein „Spatz“ im Garten herumgesprungen ist, sondern ein Zaunkönig. Was sich bei mir aber einstellt: ein absolutes Erstaunen darüber, wie sich in nicht einmal vier Jahren meine Welt erweitert hat – und das nicht mit Magie oder harter Arbeit, sondern einfach, weil ich anfing, wahrzunehmen und nicht mehr aufhören konnte, neugierig zu sein.


Vom Bett aus beobachte ich an diesem Septembermorgen einen kleinen Vogel. Er ist wirklich sehr klein und seltsam. Doch seine Größe ist es gar nicht, weshalb ich meine Augen nicht mehr von ihm nehmen kann; seine Bewegungen sind es, die mich vom Frühstücklöffeln abhalten: hik hak hok tschirp bingbingbing ein Ruckeln, als würde er die Zwischenschritte einfach auslassen. Seine geometrischen Formen besitzen keine Linien, nur Punkte. Der kleine Vogel bewegt sich so schnell, dass ich nur die äußersten Eckpunkte seiner Bewegung sehe, die, auf denen er sich in eine andere Richtung wendet. Leben wir in unterschiedlichen Raum-Zeit-Verbindungen?

Was ist mit dir, seltsames Vögelchen?

Er ist so klein. Von hier, wo mich die Nachtwärme hält und die schon fast Herbstluft mich weiter Richtung Fenster drängt, schätze ich, er hat die Länge meines Daumens und fast auch die Breite. Seine Geräusche passen mit seinen Bewegungen zusammen: jeder Ton ein Hopser. Hik hak hok tschirp bingbingbing.
Jetzt weiß ich, was mit ihm ist: Er erinnert mich an ein Daumenkino, in dem nur die wichtigen Stellen gezeichnet wurden.

Er klettert im Farn herum und ich frage mich,

ob das die ganz normale menschliche Wahrnehmung ist: nur die Punkte zu sehen und gar nicht die Linien. Bei anderen Menschen nur die Eckpunkte ihres Schaffens und gar nicht den Weg dorthin wahrzunehmen. Wir sehen sie im Glas unseres Bildschirms, lehnen uns aus unserem Schlaf kurz in ihre Richtung und sie erscheinen uns wie Spatzen mit anderen Geschwindigkeitsgesetzen. Dabei kann unser Auge ihre Wege einfach nicht wahrnehmen, die für jeden Eckpunkt überwunden werden mussten. Dabei zeichnen wir die anscheinend unwichtigen Stellen einfach nicht. Der Spatz ist jetzt in den Hortensien verschwunden und ich löffle weiter mein Frühstück. Heute werde ich vielleicht einfach nur meine Linien gehen. Und das sind dann eher die Stories als die Posts.

Unter dem Textbeitrag gab es folgendes Video:


Und du?

Kennst du diese Phasen der Beschäftigung auch? Schreib mir doch mal einen Kommentar.

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